Otto Schmidt Verlag

BGH v. 6.12.2022 - X ZR 47/22

Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens eines Klagehindernisses nach § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG

Für die Beurteilung, ob das Klagehindernis nach § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG vorliegt, ist nicht auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage. Hierbei sind auch Änderungen zu berücksichtigen, die erst im Laufe des Berufungsverfahrens eingetreten sind. Das Klagehindernis fällt weg, wenn das Europäische Patentamt entschieden hat, dass das Patent mit einer geänderten Fassung seiner Ansprüche aufrechterhalten wird, und diese Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann. In dieser Konstellation ist eine Nichtigkeitsklage nur noch insoweit zulässig, als sie darauf gerichtet ist, den Rechtsbestand des Patents in weitergehendem Umfang zu beseitigen, als dies nach der bindenden Entscheidung des Europäischen Patentamts zu erwarten ist.

Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 2 377 536 (Streitpatents), das aus einer Stammanmeldung vom 11.4.2005 hervorgegangen ist, zwei US-amerikanische Prioritäten vom 9.4.2004 und 8.4.2005 in Anspruch nimmt und die Verwendung von Aminopyridin-Zusammensetzungen betrifft. Die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts widerrief das Patent mit Beschluss vom 6.4.2016. Die Beschwerdekammer hob diese Entscheidung mit Beschluss vom 4.9.2019 (T 0799/16 - 3.3.01, NiB1) auf und verwies die Sache an die Einspruchsabteilung zurück, mit der Maßgabe, das Streitpatent mit den geänderten Patentansprüchen gemäß dem in der Beschwerdeinstanz gestellten Hauptantrag aufrechtzuerhalten und die Beschreibung anzupassen.

Patentanspruch 1, auf den drei Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der geänderten Fassung [Änderungen gegenüber der erteilten Fassung sind hervorgehoben]:
A sustained release 4-aminopyridine composition for use in a method of treating increasing walking speed in a patient with multiple sclerosis, wherein said com-position is administered twice daily in a dose of 10 milligrams or less of 4-amino-pyridine.

Der in gleicher Weise geänderte Patentanspruch 5 betrifft die Verwendung von 4-Aminopyridin zur Herstellung einer Zusammensetzung mit entsprechenden Merkmalen.

Mit ihrer am 20.8.2020 eingereichten Klage beantragte die Klägerin die vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents und machte geltend, der angegriffene Gegenstand sei nicht patentfähig. Die Beklagte verteidigte das Schutzrecht in der erteilten und hilfsweise in zwei geänderten Fassungen. Am 16.3.2021 reichte die Beklagte bei der Einspruchsabteilung eine geänderte Fassung der Beschreibung ein. Am 26.5.2021 forderte die Einspruchsabteilung die Beteiligten zur Stellungnahme hierzu auf. Mit Beschluss vom 22.10.2021 (NK11) entschied sie, dass unter Berücksichtigung der vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Europäischen Patentübereinkommens genügen.

Das BPatG wies die Klage mit Urteil vom 25.2.2022 als unzulässig ab. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die ihren erstinstanzlichen Antrag weiterverfolgt und vorrangig eine Zurückverweisung der Sache an das BPatG beantragt. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen. Am 25.3.2022 stellte die Einspruchsabteilung förmlich fest, dass die Zwischenentscheidung vom 22.10.2021 rechtskräftig geworden ist. Am 8.7.2022 reichte die Beklagte Übersetzungen der neuen Anspruchsfassung ein und bezahlte die vorgesehene Gebühr i.H.v. 80 €. Mit Beschluss vom 21.7.2022 entschied die Einspruchsabteilung, dass das Patent in der geänderten Fassung aufrechterhalten wird. Am 17.8.2022 wurde der Hinweis auf diese Entscheidung veröffentlicht. Die neue Fassung der Patentschrift (NiB28) ist mittlerweile ebenfalls veröffentlicht.

Auf die Berufung der Klägerin hob der BGH das Urteil des BPatG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Wie auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht, ist das Einspruchsverfahren im Streitfall durch die im Laufe des Berufungsverfahrens ergangene Entscheidung vom 21.7.2022 über die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung nach Art. 101 Abs. 3 Buchst. a EPÜ und Regel 82 Abs. 4 EPÜAO vom 21.7.2022 abgeschlossen.

Mit dieser Entscheidung hat das Streitpatent seine Wirkung verloren, soweit sein Gegenstand über die geänderte Fassung hinausgeht. Jedenfalls damit ist das in § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG normierte Klagehindernis entfallen. Diese Änderung ist bei der Entscheidung über die Berufung zu berücksichtigen. Die Präklusionsvorschriften in § 117 PatG stehen der Berücksichtigung nicht entgegen. Nach § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG sind nachträglich eingetretene Änderungen auch im Berufungsverfahren zu berücksichtigen. Für die Beurteilung, ob das Klagehindernis nach § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG vorliegt, ist nicht auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage. Dies steht in Einklang mit der ständigen BGH-Rechtsprechung, wonach Prozessvoraussetzungen grundsätzlich im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen müssen und hierbei auch Änderungen zu berücksichtigen sind, die erst in der Berufungsinstanz eingetreten sind.

Entgegen der Auffassung des BPatG ist für den Wegfall des durch ein Einspruchsverfahren beim Europäischen Patentamt begründeten Klagehindernisses nicht allein ausschlaggebend, ob das Verfahren formell beendet und das Patent in seinem Rechtsbestand formell eingeschränkt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob das Einspruchsverfahren einen Stand erreicht hat, in dem die Gefahr widersprechender Entscheidungen oder einer unnötigen Doppelbefassung nicht mehr besteht. § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG dient dem Zweck, das BPatG zu entlasten und einander widersprechende Entscheidungen über den Rechtsbestand des Patents zu vermeiden. Diese Zwecksetzung ist auch bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, zu welchem Zeitpunkt das durch ein Einspruchsverfahren begründete Klagehindernis entfällt. Eine Nichtigkeitsklage darf deshalb nur als unzulässig angesehen werden, solange noch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sich die Gefahren, deren Vermeidung § 81 Abs. 2 Satz 1 PatG dient, im konkreten Fall verwirklichen können.

Entgegen der Auffassung des BPatG besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Verwirklichung dieser Gefahren mehr, wenn das Europäische Patentamt entschieden hat, dass das Patent mit einer geänderten Fassung seiner Ansprüche aufrechterhalten wird, und diese Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann. Die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen bestünde in der in Rede stehenden Verfahrenslage allerdings weiterhin, wenn das Patent-gericht gehalten wäre, den Rechtsbestand der - formell noch in Kraft stehenden - erteilten Fassung des Streitpatents zu beurteilen, den das Europäische Patentamt bereits bindend verneint hat. Für eine auf dieses Ziel gerichtete Nichtigkeitsklage fehlt es in der genannten Verfahrenslage aber an einem Rechtsschutzbedürfnis. Auch wenn das angegriffene Patent formell noch in vollem Umfang in Kraft steht, ist eine Nichtigkeitsklage nur noch insoweit zulässig, als sie darauf gerichtet ist, den Rechtsbestand des Patents in weitergehendem Umfang zu beseitigen, als dies nach der bindenden Entscheidung im Einspruchsverfahren zu erwarten ist. Solange das angegriffene Patent formell in Kraft steht, hängt die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage zwar grundsätzlich nicht von einem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers ab. Vielmehr genügt das Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung eines zu Unrecht erteilten, nicht schutzfähigen Patents. Hieraus ergibt sich aber nicht, dass eine Nichtigkeitsklage auch ohne jegliches Rechtsschutzbedürfnis zulässig ist.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Das Einheitspatentsystem
Aloys Hüttermann, IPRB 2022, 213

Nachzulesen im Beratermodul IPRB – Recht des geistigen Eigentums und der Medien:
Das exklusive Modul für einen gezielten digitalen Zugriff auf sämtliche Inhalte des IPRB. Inklusive Selbststudium nach § 15 FAO. Wann immer es zeitlich passt: Für Fachanwälte bietet dieses Modul Beiträge zum Selbststudium mit Lernerfolgskontrolle und Fortbildungszertifikat. 4 Wochen gratis nutzen!



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.01.2023 14:45
Quelle: BGH online

zurück zur vorherigen Seite