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Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – auch für Ansprüche aus dem Medienrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz? (von Raumer, IPRB 2023, 34)

Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist vielen Anwälten und Richtern weitgehend unbekannt. Entgegen einem verbreiteten Irrglauben befasst sich die Rechtsprechung des EGMR nicht nur mit „klassischen“ Menschenrechtsverletzungen, sondern mit allen Verletzungen des umfangreichen Grundrechtekatalogs der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also letztlich mit allen Themen, die auch Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht wegen einer Grundrechtsverletzung sein könnten. Der Beitrag zeigt die Bedeutung des Beschwerdeverfahrens zum EGMR im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Medienrechts auf, erläutert die Grundzüge des Verfahrens und gibt wichtige Hinweise zur Vermeidung von Fehlern auf dem Weg durch die Instanzen bis zum EGMR nach Straßburg.

I. Einleitung
II. Bedeutung der EMRK in der deutschen Rechtspraxis

1. Folgen einer Verletzung der EMRK
2. EMRK in der Juristenausbildung und in der anwaltlichen Praxis
III. Das Beschwerdeverfahren beim EGMR
1. Aufbau und Struktur des EGMR
2. Formelle und materielle Rechtswegerschöpfung
3. Beschwerdefrist und Beschwerdeformular
4. Rügefähige Rechte im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Medienrechts
5. Verfahren nach der Annahme der Beschwerde
IV. Fazit


I. Einleitung

Für mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vertraute Spezialisten ist die Frage, ob Ansprüche aus dem Medienrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz auch in Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR verfolgt werden können, schnell und einfach zu bejahen.

Spätestens eine kurze Recherche in der einschlägigen Kommentarliteratur zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder in der Online-Datenbank des EGMR führt zu mehreren Entscheidungen des Gerichtshofs in diesen Rechtsgebieten, z.B.

  • die, allgemeine Rechtsgrundsätze prägende Entscheidung des EGMR in Sachen Smith Kline and French Laboratories Ldt. gegen Niederlande zum grundsätzlichen Schutz von Patenten durch Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK, dem Eigentumsrecht aus der EMRK sowie zum Schutz in solche Rechte betreffende Verfahren durch die Prozessgrundrechte aus Art. 6 (faires Verfahren: Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht) und 13 EMRK (Anspruch auf einen effektiven nationalen Rechtsbehelf gegen Verletzungen der EMRK), die bereits am 4.10.1990 ergangen ist,
  • die Entscheidung des EGMR v. 11.1.2007 in Sachen Anheuser-Busch Inc. gegen Portugal, nach der Markenrechte durch Art. 1 des 1. ZP geschützt sind und
  • die Entscheidung des EGMR v. 29.1.2008 in Sachen Balan gegen Moldawien zum Schutz von Urheberrechten an einem Foto durch Art. 1 des 1. ZP.
  • Nicht nur Spezialisten, sondern auch der breiten Öffentlichkeit wurde etwa das Urteil des Gerichtshofs im Fall von Hannover gegen Deutschland vom 24.6.2004 (auch: Caroline-Entscheidung ) bekannt, in dem der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK durch Veröffentlichung mehrerer Fotos aus dem Privatleben der prominenten Beschwerdeführerin in den Magazinen „BUNTE“ und „Neue Post“ feststellte und für Personen des öffentlichen Lebens einen höher als nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu schützenden privaten Raum postulierte, nachdem die deutsche Gerichtsbarkeit die Veröffentlichung dieser Fotos wegen dem besonderen öffentlichen Interesse an der prominenten Betroffenen als noch von der Pressefreiheit gedeckt angesehen hatte.

Letztere Entscheidung des EGMR hatte sogar den damals scheidenden Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, anlässlich seiner feierlichen Verabschiedung am 14.5.2010 zu massiver Kritik am EGMR veranlasst, mit der Papier seine Auffassung äußerte, wenn ein Fall von den nationalen Rechtsschutzorganen einschließlich dem BVerfG unter menschenrechtlichen Aspekten hinreichend geprüft und beurteilt worden sei, so bedürfe es keiner erneuten Detailprüfung solcher ja erfolgter Abwägungen zwischen den betroffenen Schutzgütern durch den EGMR. Dieser solle sich, wenn er als Hüter der Menschenrechtsstandards der EMRK weiterhin ernst genommen werden wolle, lieber mit Fällen aus denjenigen Staaten befassen, deren Rechtssystem diesen Standards generell noch nicht entsprächen. Ungeachtet dessen hat auch die Caroline-Entscheidung des EGMR zu nicht unerheblichen Änderungen in der deutschen medienrechtlichen Rechtsprechung geführt.

II. Bedeutung der EMRK in der deutschen Rechtspraxis

1. Folgen einer Verletzung der EMRK

Damit erscheint die mit der Überschrift dieses Aufsatzes gestellte Frage noch leichter zu beantworten, als die Frage, warum gerade die deutsche Anwaltschaft – und das keineswegs nur im Bereich des Medienrechtes und des gewerblichen Rechtschutzes – bis heute nur eher selten in den von ihr geführten Verfahren bei deutschen Gerichten mit der für diese im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) geltenden EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR argumentiert und Individualbeschwerden zum EGMR gem. Art. 34 EMRK gegen die deutsche Regierung bis heute wenigen Spezialisten vorbehalten bleiben. Die Beschwerden zum EGMR gehören – anders als in einigen anderen Vertragsstaaten des Europarates – keineswegs zum selbstverständlichen Handwerkszeug auch von sonst hochprofessionellen deutschen Anwaltskanzleien.

Das ist umso schwerer zu verstehen, wenn man bedenkt, dass

  • sich heute auch das BVerfG mit seinem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes (GG) im Lichte der EMRK auch bei seiner verfassungsrechtlichen Bewertung eines Falles jedenfalls im Ergebnis...

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.02.2023 13:21
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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