Otto Schmidt Verlag

EuGH v. 12.1.2022 - C-57/21

Beweismittel für Schadensersatzklage wegen Wettbewerbsverstoß

Ein nationales Gericht kann die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines Schadensersatzverfahrens im Zusammenhang mit einer mutmaßlichen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht anordnen, auch wenn das Verfahren ausgesetzt wurde, weil die Kommission eine Untersuchung in Bezug auf diese Zuwiderhandlung eingeleitet hat. Dieses Gericht muss sich allerdings vergewissern, dass die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke der Schadensersatzklage tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig ist.

Der Sachverhalt:
Im Januar 2012 leitete die tschechische Wettbewerbsbehörde ein Verfahren über einen möglichen Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch ein nationales Eisenbahnunternehmen im Eigentum des tschechischen Staates (České dráhy) ein. Die mutmaßliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht bestand in der Anwendung von Verdrängungspreisen im Rahmen von Schienenpersonenverkehrsdiensten in der Tschechischen Republik, insbesondere auf der Strecke Prag-Ostrava. Im Jahr 2015 erhob RegioJet, ein Unternehmen, das u. a. Schienenpersonenverkehrsdienste auf dieser Strecke anbietet, bei den tschechischen Gerichten eine Schadensersatzklage gegen České dráhy auf Ersatz des Schadens, den es durch die fragliche Zuwiderhandlung erlitten habe.

Im November 2016 leitete die Kommission ein förmliches Prüfverfahren in der Sache ein. Daraufhin setzte die tschechische Wettbewerbsbehörde das bei ihr eingeleitete Verfahren aus. Im Oktober 2017 stellte RegioJet im Rahmen ihrer Schadensersatzklage einen Antrag auf Offenlegung von Dokumenten - bei denen sie davon ausging, dass sie im Besitz von České dráhy stünden - im Zusammenhang mit dem wettbewerbswidrigen Verhalten. Im Dezember 2018 setzten die tschechischen Gerichte das Verfahren über die Schadensersatzklage aus, bis die Kommission über die Zuwiderhandlung entschieden hat, die České dráhy begangen haben soll.

Das tschechische Oberste Gericht legt dem EuGH mehrere Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 2014/104/EU über Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht vor, und zwar hinsichtlich der Offenlegung von Beweismitteln in den entsprechenden Verfahren. Insbesondere möchte das tschechische Oberste Gericht wissen, ob die nationalen Gerichte die Offenlegung von Dokumenten in Bezug auf eine mutmaßliche Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht anordnen können, auch wenn das Verfahren, das dieser Anordnung zugrunde liegt und eine Schadensersatzklage wegen der fraglichen Zuwiderhandlung betrifft, bis zum Erlass einer Entscheidung der Kommission ausgesetzt wurde.

Die Gründe:
Ein nationales Gericht darf keine Entscheidung erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen würde, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren wegen einer mutmaßlichen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht der Union zu erlassen beabsichtigt. Ein nationales Gericht kann, wenn diese Anforderung erfüllt ist, grundsätzlich die Offenlegung von Beweismitteln für die Zwecke eines Schadensersatzverfahrens im Zusammenhang mit einer solchen Zuwiderhandlung auch dann anordnen, wenn dieses Verfahren bis zum Erlass einer Entscheidung der Kommission über die Zuwiderhandlung ausgesetzt wurde. Das nationale Gericht muss sich allerdings vergewissern, dass die Offenlegung von Beweismitteln für die Beurteilung des fraglichen Schadensersatzantrags tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig ist.

Der Umstand, dass die tschechische Wettbewerbsbehörde das bei ihr eingeleitete Verfahren ausgesetzt hat, weil die Kommission ein Untersuchungsverfahren über denselben Sachverhalt eingeleitet hat, kann einer Beendigung des ersten Verfahrens durch diese Behörde nicht gleichgesetzt werden. Folglich wird es durch eine solche Aussetzung des nationalen Verfahrens dem nationalen Gericht nicht ermöglicht, die Offenlegung von Beweismitteln anzuordnen, deren Vorlage von der Voraussetzung abhängt, dass die zuständige Wettbewerbsbehörde das bei ihr anhängige Verfahren beendet.

Die tschechische Regelung, die dem nationalen Gericht während eines bei der Wettbewerbsbehörde anhängigen Verfahrens die Anordnung der Offenlegung von Informationen nicht nur - wie in der Richtlinie vorgesehen - in Bezug auf Informationen untersagt, die eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren "erstellt" wurden, sondern auch in Bezug auf Informationen, die zu diesem Zweck "vorgelegt" wurden, ist mit der Richtlinie unvereinbar. Das mit der Richtlinie verfolgte Harmonisierungsziel würde gefährdet, wenn die Mitgliedstaaten im Bereich der Offenlegung von Beweismitteln die Möglichkeit hätten, restriktivere Vorschriften als die in ihren Bestimmungen aufgestellten einzuführen.

Im Übrigen ermöglicht es die Richtlinie dem nationalen Gericht, die Offenlegung von Beweismitteln anzuordnen, die Informationen enthalten könnten, die eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren "erstellt" wurden, um zu prüfen, ob die betreffenden Dokumente tatsächlich solche Informationen enthalten. Allerdings muss das nationale Gericht dafür Sorge tragen, dass den anderen Beteiligten und Dritten ein Zugang zu diesen Dokumenten nur nach Maßgabe des Ergebnisses dieser Prüfung und im Einklang mit der Richtlinie gewährt wird.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.01.2023 14:56
Quelle: EuGH PM Nr. 5 vom 12.1.2022

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